Mädchen* in den Hilfen zur Erziehung

Mit dem Projekt „Nach der stationären Erziehungshilfe-Care Leaver in Deutschland“ der IGFH und der Universität Hildesheim sind die jungen Erwachsenen und ihre Situation nach Beendigung einer stationären Hilfe in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt.
Im Ergebnis zeigen sich vielfältige Formen von Benachteiligungen, denen diese jungen Menschen im Vergleich zu Gleichaltrigen ausgesetzt sind.

Was bedeutet das für die Mädchen in den erzieherischen Hilfen?

In unseren Wohngruppen leben Mädchen* und junge Frauen* ab 16 Jahren mit den unterschiedlichsten kulturellen und sozialen Hintergründen. Viele kommen zu uns, weil sie mit ihrer Not über Jahre nicht gesehen wurden. Zu dem Zeitpunkt, zu dem dann eine Hilfe eingerichtet wird, haben sie mitunter sehr starke eigene Lebens- und Überlebensstrategien entwickelt, für die die Bedingungen einer rund um die Uhr Betreuten Wohngruppe zu eng sind.

Deckt sich das mit statistischen Erhebungen? Welche neueren Erkenntnisse gibt es über Mädchen in HzE?

Um diese Fragen zu klären haben wir uns auf die Suche begeben, recherchiert und verschiedene Fachtagungen besucht.

Sammlungen und Mitschriften zu…
… dem Projekt „Nach der stationären Erziehungshilfe- Care Leaver in Deutschland“

Durchgeführt von: IGfH e.V. und der Universität Hildesheim
Ziel:
• Hilfreiche Bedingungen benennen für Jugendliche und junge Erwachsene, die nicht bei den Herkunftseltern leben können und den Übergang ins Erwachsenenleben bewältigen.
• Überblick über bereits existierende Modelle im In- und Ausland zu gewinnen, um dann einen Transfer in die Erziehungshilfen in Deutschland anzuregen.



5 Forderungen:

1.- Die Rechte der Care Leaver müssen durchgesetzt werden!

• Rechtsanspruch auf Erziehungshilfen über Volljährigkeit hinaus ernst nehmen
• Bewilligung der Hilfen für junge Volljährige nach § 41 SGB VIII abhängig von Bedarf, nicht fiskalischen Interessen
• bundesweit Ombudsstellen schaffen, um restriktive Auslegung des § 41 entgegen zu wirken (In Niedersachsen tätig seit 2012: BerNi e.V.-Beratungs- und Ombudsstelle für Kinder- und Jugendhilfe in Niedersachsen e.V., www.berni-ev.de

2.- Care Leaver für Care Leaver! Selbstorganisation stärken

• Förderung der Selbstorganisation der Care Leaver
• Unterstützung der Interessen von Care Leaver durch Lobbyarbeit
• Stärkung auch auf politischer Ebene

3.- Zuständig bleiben! Dienstleistungsinfrastruktur für Care Leaver schaffen

• Koordination bei parallelen Leistungsansprüchen
• Lokale Infrastruktur schaffen qua Jugendhilfeplanung
• Niedrigschwelliges Beratungsangebot für junge Menschen ab 16 bereitstellen

4.- Bildungschancen sichern!

• Bildungsorientierung und Erreichen höchstmöglicher Bildungsabschlüsse stärker fördern
• Berufliche Ausbildungsmöglichkeiten für Care Leaver, z.B. in Verbindung mit Wohnangeboten stärken
• Kinder- und Jugendhilfe muss auch zweite und dritte Anläufe in Richtung von Bildungsabschlüssen unterstützen

5.- Die Jugendhilfe muss die veränderte Jugendphase anerkennen!

• Fast alle jugendlichen Menschen erfahren Unterstützung bis weit in das dritte Bildungsjahrzehnt. Care Leaver haben ein Recht auf vergleichbare Unterstützung
• Fließende Übergänge statt Beendigung der Hilfen! Jugendhilfe muss zuständig bleiben

Im Original z.B.: auf www.igfh.de

… der Situation von Care Leavern in Deutschland

Care Leaver im Vergleich zu ihren Peers:
• Häufiger obdachlos, psychsich krank, suchtmittelabhängig oder mit dem Gesetz in Konflikt
• Verlassen die Schule mit einem geringeren oder keinem Abschluss, sind überproportional häufig arbeitslos oder von Arbeitslosigkeit bedroht
• Häufiger frühe (ungewollte) Elternschaft
• Geringere soziale Unterstützung
• Verfügen über Lebenskonzepte, die den klassischen gesellschaftlichen Wertvorstellungen von Familie und Beruf entsprechen

SIND ALSO ÜBERPROPORTIONAL HÄUFIG VON SOZIALER BENACHTEILIGUNG UND EXKLUSION BETROFFEN
(Dr. Maren Zeller, Abschlussveranstaltung des Projektes „Nach der stationären Erziehungshilfe-Care Leaver in Deutschland“, 2013)

Ausdehnung der Jugendphase: heute zwischen 12 und 25. Entgrenzung und Verdichtung von Jugend.
Zwei Eckpfeiler der Veränderung:
1.- Familien unterstützen junge Erwachsene bis weit in das dritte Lebensjahrzehnt und junge Erwachsene suchen diese Unterstützung
2.- Übergänge in Arbeit oder Bildungskarrieren sind stark von den informellen und formellen Unterstützungsressourcen abhängig.



Care Leaver in Deutschland

Nach Hilfeende:
• Keine Rückkehrmöglichkeit
• Kaum familiärer Rückhalt
• Mangelnde emotionale Unterstützung
• Fehlende soziale Netze
• Prekäre finanzielle Ressourcen
• Wenig Hilfe im Fall von eigenen Kindern
(Dr. Severine Thomas auf der Abschlussveranstaltung des Projektes „Nach der stationären Erziehungshilfe-Care Leaver in Deutschland“, 2013)
„Careleaver Deutschland“
www.careleaver.de

In der Analyse ist zwischen den Geschlechtern nicht unterschieden worden!

… Mädchen in der Jugendhilfe

– Mädchen* erhalten deutlich weniger HzE als Jungen*
– In Tagesgruppen sind nur ¼ der Kinder und Jugendlichen Mädchen*
– In der Heimerziehung beträgt der Anteil der Mädchen* 42%
– In der Inobhutnahme sind Mädchen* in der Überzahl- viele Selbstmelderinnen*!
– HzE der Mädchen* beginnen deutlich später als die der Jungen*
– HzE der Mädchen* sind im Durchschnitt kürzer als die der Jungen*
(Dr. Claudia Wallner, Fachvortrag 2007 in Magdeburg)

– Verteilung der HzE insgesamt:
Mädchen*: 45%
Jungen*: 55%
Fremdunterbringung: 47% Mädchen*
– Je älter, desto weniger Unterschiede zwischen Mädchen* und Jungen*
– Bei Jüngeren überwiegt der Anteil der Jungen, bei Älteren der Anteil der Mädchen*
– Gründe: Fehlende Angebotsstrukturen im Bereich HzE, unterschiedliche Wahrnehmungs- u. Defizitprozesse in Bezug auf geschlechtsspezifische Lösungsstrategien, nicht für beide Geschlechter gleichermaßen passende Rahmenbedingungen und pädagogische Settings, bzw. tatsächlich unterschiedliche Problemlagen von Mädchen* und Jungen*
– Inobhutnahme: Zunahme zwischen 2005 und 2014 um 56%. Anteil SelbstmelderInnen* ist zurückgegangen (23%).
– Bei Mädchen* ging jeder fünften Hilfe eine Entwicklungsauffälligkeit voraus, bei Jungen* jeder zehnten.
(Monitor Hilfen zur Erziehung 2014. Sandra Fendrich, Jens Pothmann, Agathe Tabel. Arbeitsstelle Kinder- u. Jugendhilfestatistik 2014.)

– Mädchen* geraten in Konflikt zwischen ihren Selbstständigkeitsansprüchen und den Zuschreibungen familialer Verpflichtungen
– Hilfeverläufe von Mädchen* (und Jungen*) aus Migrationsfamilien sind kürzer und kommen häufiger in Krisensituationen zustande
– Familien mit Migrationsgeschichte haben Inanspruchnahmebarrieren im Rahmen einer selbstverordneten hohen Leidensbereitschaft und einer Angst vor deutschen Behörden
(Fachtagung der IGFH zu Mädchen* in HzE 2014, Dr. Nicole von Langsdorff)

– Mädchen* müssen sich sehr engagieren, um Hilfe zu bekommen, erfahren wenig Unterstützung von Familie und Einrichtungen
– Mädchen* gehen stark ins Gericht mit den Müttern*, weniger oder gar nicht mit den Vätern*
– Eltern stimmen der Hilfe eher widerwillig zu
– Weiterhin: Mädchen* bekommen die Hilfen vergleichsweise spät, häufig durch ihre eigene Initiative. Z.T. sind mehrere Inobhutnahmen vorgeschaltet
– Mädchen* nennen oft NICHT die Bedeutung geschlechtsspezifische Angebote, in der Fallkonstruktion sind diese aber SICHTBAR
– Viele Care Leaver sind in klassischen Mädchen*berufen
– Care Leaver schaffen oft eine Ausbildung, allerdings häufig nach längerer Zeit, in der nichts ging.
(Fachtagung der IGFH zu Mädchen* in HzE 2014, Dr. Maren Zeller)



Und jetzt?

Mädchen* und Jungen* finden vor, während und nach den Hilfen zur Erziehung unterschiedliche Bedingungen vor. Mädchen* bekommen die Hilfen erst später in ihren Lebensläufen und beenden sie dafür früher. Außerdem brechen sie die Hilfen öfter ab als Jungen*. Infolge dessen orientiert sich eine Mehrheit der jungen Frauen* und Männer* in ihren Lebensentwürfen eher an klassischen Rollenerwartungen.
Für Mädchen* bedeutet das eine Lebensführung, die von massiver Benachteiligung geprägt ist (Verdienst in klassischen Frauenberufen, erschwerte Verwirklichung eigener Wünsche, Verantwortung für die Familie zuungunsten eines eigentlich möglichen Bildungsweges…). Und es bedeutet, dass § 9 SGB VIII zur Gleichberechtigung von Mädchen und Jungen nicht nachhaltig erfüllt wird.
Mädchen* können die HzE weniger intensiv und weniger erfolgreich als Jungen für sich nutzen. Umso wichtiger sind flexibel gestaltete Übergänge zwischen Jugendhilfe und eigenverantwortlichem Leben. Eine konsequente Berücksichtigung des § 41 SGB VIII ist dafür ebenso zentral wie die Koordinierung der für die Leistungsansprüche zuständigen Institutionen. Außerdem muss den jugendlichen Suchbewegungen Rechnung getragen werden, also der Tatsache, dass die Entscheidungen nicht unumstößlich sind, dass Umwege dazu gehören.

Anmerkungen, Anregungen, Rückmeldungen?

Gerne an zwei13@maedchenhaus-hannover.de